Björn Nölte und Philippe Wampfler pflastern neue Wege zum Umgang mit Lernen und Leistung: Eine Schule ohne Noten

Auf unsere Rezensionsanfrage hin erreichten Iris und mich völlig uneitel und selbstverständlich und völlig kostenlos die „Gelben Seiten 2.0“ - nur auf den ersten Blick schmal (etwa 120 Seiten Inhalt), in der Auseinandersetzung aber nachdrücklich und unbequem an Haltungen und Bestehendem rüttelnd.

Zu den Autoren:

Björn Nölte und Philippe Wampfler - zusammen haben sie über 21.000 Follower auf Twitter, sind Blogger und auf Social-Media-Kanälen gefragt. Trotz ihrer Beliebtheit sind sie nahbar, antworten zügig auf Nachfragen und leben die Kultur des Teilens und Vernetzens.

Nölte und Wampfler - wer ist das und wann machten sie sich auf den gedanklichen Weg des „Ent-Notens“?

Philippe Wampfler:

Deutschlehrer, Dozent für Deutschdidaktik an der Universität Zürich, Autor und Teilgeber nicht nur im #digifernunterricht.

Zum Prozess des Entnotens schreibt mir Philippe Wampfler: „Für mich hat der Prozess in der Schule begonnen. Beim Umgang mit Noten und den damit verbundenen Stressoren. Beim Entwickeln meines Unterrichts wurden sie zunehmend zum Flaschenhals, der alle Evolution erschwert, verlangsamt. Gute Formate kommen für mich immer ohne Noten aus – gute Lerngespräche auch. Diese Erfahrung hat mich in diese Richtung gestoßen.“

Björn Nölte

Im ersten Leben Lehrer, Fach- und Hauptseminarleiter, heute Schulaufsicht der Ev. Schulstiftung BB. Denkt u.a. weiter im Bildungscafé.

Björn Nölte schreibt auf meine Anfrage: „Eine Initialzündung des Ent-Notens gab es bei mir eigentlich nicht. Vielmehr hatte ich sowohl mit Referendar*innen als auch mit Schüler*innen beim Einsatz verschiedener Methoden (E-Portfolio, Master-or-Die) die Rückmeldung und Einsicht bekommen, dass man jetzt die Note eigentlich nicht mehr braucht.“

Nölte und Wampfler - wirklich kühne Revoluzzer, da sind sich auch Kolleg:innen aus dem #twlz einig. Ein paar Kolleg:innen „vor Ort“ durfte ich befragen (bitte auf die Zitate klicken, dann geht es weiter):

Nun ist ihr Gemeinschaftswerk erschienen: Eine Schule ohne Noten - Was erwartet uns da?

Die Debatte über Schulnoten ist alles andere als neu. Warum schieben Nölte und Wampfler das Thema ausgerechnet jetzt noch einmal an?

In der Kultur der Digitalität durch den Leitmedienwechsel finden sich die Gründe: neues Wissensmanagement, neues Lernen, neue Lernkultur und neues Nachdenken darüber, was Schule eigentlich sein kann. In diesem Zusammenhang sind auch die Gründung des Instituts für zeitgemäße Prüfungskultur (Dezember 2020) und die Umfrage aus dem Frühjahr 2021 im #twlz, welche Mythen sich um Noten ranken, zu verstehen.

So sieht es also aus:

Zitate und Anstöße (u.a.. von Remo Largo und Alfie Kohn) vor einem jeden Kapitel nehmen die Leser:innen mit, Illustrationen und Abbildungen runden den Aufbau ab.

Ausgehend von Erfahrungswerten aus den USA und von Grundschulen in der Schweiz schildern die Autoren, teilweise zusammen mit der Lehrerin Nina Schnatz, wie Leistungsbewertung jenseits von Noten möglich wird. Die „Evangelische Schule Berlin-Zentrum“ (ESBZ) und die „Obersee Bilingual School“ (OBS) mache es vor und geben u.a. diese Antworten und Tipps:

Die Schattenseiten der Notengebung ist eines der großen Kapitel. Nöltes und Wampflers Kritikpunkte an Noten unter Rückgriff auf Ingenkamp und Winter sind u.a.:

  • Lernpsychologische Fragwürdigkeit,

  • Bekenntnis zu Testmechanismen,

  • Scheingenauigkeit,

  • uneinsichtige Fremdbeurteilung,

  • Unterschiedlichkeit bei gleicher Leistung,

  • Angstmacherei,

  • sinkende Motivation sowie

  • geringe Ausprägung von Selbstkompetenz und Selbstreflexion.

Bei der Lektüre wird völlig klar, warum es ohne Noten gehen soll: Wenn wir an all das denken, was im Unterricht des 21. Jahrhunderts passieren soll und kann und wird, dann reichen Klassenarbeiten im antiquierten Sinne und im schwarzen Hefter sowie einfache Notenskalen und eine Normalverteilung nicht mehr aus. Punkt.

Leistungen weiterhin ohne Hilfsmittel und als individuelles Unterfangen zu bewerten sowie den Prozess und die Selbstreflexion nicht zu berücksichtigen, all das stellt sich als großer, unzeitgemäßer Bremsklotz dar und widerspricht auch den Überlegungen des 4K-Modells. Es bleibt der fade Beigeschmack:

Noten „führen dazu, dass sich Kinder und Jugendliche wie dressierte Delfine verhalten: Zwar springen sie ab und zu durch einen Ring, aber weniger häufig, als sie es sonst täten. Und mit viel weniger Freude.“ (S. 48)

Was nach der Lektüre aber auch klar wird: es braucht ein Umdenken und ein Implementieren des neuen Systems und des Dialogischen Lernens (Felix Winter): in den Köpfen der Eltern, der Schüler:innen, der Lehrer:innen und deren Schulleiter:innen, aber auch in der Lehrer:innenaus- und -weiterbildung.

Wampfler und Nölte fordern dazu auf und uns heraus.

Sie schaffen über Beispiele zeitgemäßer Prüfungsformate Anreize und berücksichtigen den digitalen Rückenwind bis hin zu BYOD-Ideen:

  • „Master or die“ (Björn Nölte),

  • Lernkontrollen mit allen Hilfsmitteln und (Sesseltanz-)Feedback als Reflexionsanlass (Felix Winter),

  • Self-Assessment und Lerndialog zu Fortschritt und Schwächen und unter Rückgriff auf die 4K,

  • Dokumentation und Reflexion des eigenen Lernens,

  • Beteiligung der Lernenden an eigenen Bewertungskriterien,

  • Pass/Fail,

  • Open-Media- und Take-Home-Klausuren,

  • authentisches Assessment und

  • (E-)Portfolio.

Weite Teile dieser zeitgemäßen Prüfungskultur erlauben ein schrittweises Umdenken. Schritt für Schritt von der fehlerorientierten Korrektur zur Qualitätssuche aus unterschiedlichen Positionen. Das sind Anreize, Anstöße und Mutmacher, ähnlich sieht es auch der Kölner Schulleiter Oliver Schmitz: „Björn und Philippe haben definitiv einen Zeitumkehrer in ihrem Besitz. Anders ist das schiere Ausmaß an guten Ideen nicht zu erklären, die aus ihnen herauspurzeln.“ -

Hört man sich im #twlz weiter um, kommt man an den überwiegend positiven Resonanzen wie dieser nicht mehr vorbei. Es wird Zeit - auch für die Lehrer:innenausbildung.

Nöltes und Wampflers „Eine Schule ohne Noten“ (mit Erscheinung übrigens sofort kurzzeitig vergriffen) ist für € 20,- / CHF 24,- erhältlich und im hep-Verlag erschienen.

Ausblick: Lehrer:innenausbildung

Mit einem Beispiel aus „Schule ohne Noten“ werde ich in den kommenden Jahrgang 2022/23 einsteigen: Wir werden uns gemeinsam und dialogisch sowie digital auf die Suche nach Qualitäten in den Unterrichtsplanungen der LAA machen, diese ausstellen, verbinden und reflektieren (vgl. S. 106) - und ganz sicher darauf aufsatteln.

Wichtige weitere Impulse und viel Zukunftsmusik für den Vorbereitungsdienst in NRW (frisch mit neuem Kerncurriculum) lese ich bereits bei den Kollegen aus Brandenburg: Ole Müller, Thomas Linke und Jan Marenbach. Ich bin sicher, dass auch die Ergebnisse Nöltes und Wampflers vielfach auf das Referendariat zu übertragen sind. Hier ein Anfang - und eine Einladung zum Mitmachen:

  • Kann auch der Vorbereitungsdienst ohne Noten besser werden? Wie?

  • Wie kann die Kommunikation in Unterrichtsnachbesprechung als beratend empfunden und wahrlich symmetrisch angelegt werden?

  • Wie und mit welchen Hilfsmitteln können Prozessorientierung und formatives Assessment einen Beitrag zur zeitgemäßen Prüfungskultur leisten und so auch Einzug in die Lehrer:innenausbildung halten?

  • Welchen Gelingensbedingungen unterliegen bisherige (E-)Portfolios? Wie können diese Konzepte auch zusammen mit LAA neu gedacht werden?

  • Wie kann Co-Planning als Chance im 21. Jahrhundert und nicht als Abpinselgefahr begriffen werden?

  • Wie können LAA befähigt werden, in den Prozess des „Ent-Notens“ einzusteigen? Wie sollten wir SAB die Sitzungen zum Handlungsfeld L öffnen?

  • Wie können alternative, zeitgemäße Prüfungsformate in die Fachausbildung und in die Fachschaftsarbeit integriert werden?

  • Und geträumt: Wie würden Vorstellungsgespräche aussehen, bei denen von den Kandidat:innen nur „Bestanden“ und ein „Bewerbungsportfolio 2.0“ auf dem Tisch liegt?

Hast du Interesse, hierüber ins Gespräch zu kommen und dich zu vernetzen? Hast du weitere Fragen oder Thesen? Bitte hinterlasse hier, per Email (catrin.ingerfeld@web.de) oder auf Twitter (@CatrinIngerfeld) eine Nachricht. Wir sind an einer Weiterarbeit, auch über die Bundeslandgrenze hinweg, interessiert.

Weiterführendes (letzter Zugriff jeweils am 05.01.2022)

Björn Nölte: Blog und Björn Nölte: Twitter

Philippe Wampfler: Blog und Philippe Wampfler: Twitter

Institut für zeitgemäße Prüfungskultur e.V.

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Upgrade accomplished: Björn Nöltes neuer Band „Kollaboratives Lernen“

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Flip your School! - Jetzt erst recht.